Gastbeitrag: Sind Autisten behindert?

Dieser Beitrag ist ein Gastbeitrag von einem meiner Leser. Bernd ist 54 und wurde 2013 mit einer Autismus Spektrum Störung (ASS) diagnostiziert. Er hat eine etwas andere Meinung als ich zu dem Thema Behinderung. In diesem Beitrag schreibt er von seiner Haltung zu dem Thema ASS und ob Autisten behindert sind:

Bevor ich mich dieser interessanten Frage widme, möchte ich zunächst einen Begriff erklären, der im Verlauf eine Rolle spielt und häufig genannt wird: Neurologisch Typisch oder abgekürzt NT.

Ich werde den Begriff NT bzw. NTs verwenden, letzteres als plural zu NT. NT bedeutet in diesem Zusammenhang Neurologisch Typisch und definiert Menschen, die einen im medizinischen Sinn neurologisch typischen Aufbau eines Gehirns vorweisen und sich somit von Autisten unterscheiden. Daraus resultiert eine andere Art der Wahrnehmung und Signalverarbeitung, die die Symptome von Autismus erklärt. Diese Symptome sind sehr vielfältig und treten nicht zwangsweise bei allen Autisten auf, weswegen der Begriff autistisches Spektrum benutzt wird.

Oft begegnen wir Situationen, in denen Menschen, die dem Autistischen Spektrum zugerechnet werden, als behindert bezeichnet werden. Dazu kommt, dass ein allgemein üblicher Ausdruck in der Diagnose von Autismus ASS lautet: Autismus Spektrum Störung.

Den Begriff ASS finde ich jedoch fehl am Platz, weil das letzte S ja für Störung steht. Störung? Ich frage mich dabei oft: Wer oder was ist gestört? Sind es wirklich nur die Autisten, die gestört sind? Oder ist es nicht vielmehr die Akzeptanz von Menschen, die anders als der Durchschnitt sind (oder das was NTs dafür halten) aus Sicht der NTs? Soweit ich das beobachte, stört sich die Mehrzahl der NTs an der Offenheit, Ehrlichkeit und des aus Ihrer Sicht unsozialen Verhaltens von Autisten.

Viele Autisten besitzen Fähigkeiten, die NTs nicht besitzen. Trotzdem redet hier (fast) niemand von einer Neurologisch Typischen Störung. Der Begriff Störung (bei Autisten) ist also in erster Linie eine Stigmatisierung einer Gruppe von Menschen, die weder Krank noch behindert ist, sondern lediglich anders wahrnimmt und denkt, als es die Mehrzahl der Menschen tut. Rechtfertigt das den Begriff Störung? Ich meine nicht. Und ich finde die Gesellschaft sollte Autisten akzeptieren, wie sie sind, und nicht ausgrenzen, wie es aktuell der Fall ist.

Wenn ich als Autist also selber den Begriff benutze, signalisiere ich damit, dass ich akzeptiere, dass ich gestört bin. Der Begriff Be-hinderung deutet darauf hin, dass jemand an etwas gehindert ist. Und so frage ich mich im Zusammenhang mit Autismus: wer ist an was gehindert und was bedeutet Störung?

Kommunikation zwischen Menschen findet (außer man ist taub oder stumm oder beides) auf verschiedenen Ebenen statt, verbal und nonverbal, üblicherweise oft auch gleichzeitig. Eines der bei Autisten häufiger auftretenden Symptome ist ein eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen von Gesichtsausdrücken und Körpersprache. Ein weiteres Symptom ist häufig, dass Autisten die Regeln der verbalen Sprache so auslegen, wie es die Definition von Wörtern und Grammatik hergibt. Eines der üblichen Symptome von NTs ist, dass sie fast nie sagen was sie meinen oder Denken und wenn sie etwas sagen, das gemeinte verschlüsseln*. Der NT Empfänger übersetzt das Verschlüsselte dann wieder. Das nennt man dann „zwischen den Zeilen lesen“.

Ob man das Eingeschränkte Interpretationsvermögen von Gesichtsausdrücken und das nicht zwischen den Zeilen lesen können als Mangel oder als Vorteil sieht ist eine Frage des Standpunktes.

Ich persönlich empfinde es nicht als vorteilhaft verklausuliert zu kommunizieren (weil größtenteils unehrlich und unlogisch). Daher empfinde ich NTs als behindert, nämlich behindert darin zu sagen, was sie denken, behindert darin die Wahrheit sagen zu wollen.

Weiterhin sind viele NTs darin behindert, in der Fähigkeit Andersdenkende zu akzeptieren, wie sie sind und trotzdem zu integrieren, wenn jemand von der Norm abweicht. Aus meiner Sicht sind also ganz klar nicht die Autisten behindert, sondern die meisten (nicht alle) NTs.

Für mich ist jemand allerhöchstens herausgefordert aber nicht behindert. Jemand der im Rollstuhl sitzt, hat eben eine Herausforderung bestimmte Situationen zu meistern, was die meisten gut schaffen. Die Behinderung bzw. Hinderung besteht ja nur darin, dass jemand mit funktionierenden Beinen an eine Stelle eine Treppe statt einer Rampe gebaut hat. Somit ist der Rollstuhlfahrer daran gehindert dort hoch zu kommen was aber nicht primär an der Unfunktionalität der Beine liegt, sondern daran, dass der Architekt vergessen hat daran zu denken stattdessen eine Rampe vorzusehen. Ich kenne eine Reihe von Menschen, die solche Herausforderungen haben und ziemlich gut meistern.

Und so sehe ich das bei Autisten auch, sie sind herausgefordert aus dem Kauderwelsch der NTs, wenn sie reden, Sinn zu machen, aber darum sind sie nicht behindert. Aus Sicht eines Speerwerfers, der seinen Speer auf 70m wirft, ist ja jemand, der es nur auf 30m schafft auch nicht behindert. Kein Speerwerfer kommt auf die Idee jemanden, der einen Speer 20m wirft als behindert zu bezeichnen.

Ich fühle für mich, dass ich in dem Moment, wo ich akzeptiere als behindert bezeichnet zu werden oder gestört, dass ich damit akzeptiere minderwertig zu sein und denen, die mir das Label aufdrücken, damit das Recht geben mich ausgrenzen zu dürfen. Ich akzeptiere das Opfer zu sein. Ich mag mich aber nicht in der Opferrolle fühlen. Sondern möchte als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft akzeptiert werden. Darum darf ich es für mich nicht zulassen mich als behindert oder gestört zu akzeptieren.

Ich bezeichne mich als Autist oder zugehörig zum autistischen Spektrum und dabei ist es mir egal an welchem Ende, da der NT in der Regel sowieso keine Ahnung hat wie sich das Spektrum zusammensetzt. Die meisten haben mal das Wort Autist gehört und erinnern sich an Rainman.

Autist ist für mich die Bezeichnung einer Gruppe von Menschen mit einer besonderen Begabung, so wie Musiker oder Sportler. Niemand redet von musikalischen Menschen, oder sportlichen Menschen, schon gar nicht von Musikalisches Spektrum Störung, oder Sportliches Spektrum Störung.

Ziel sollte es also sein, dass man Menschen die anders Denken akzeptiert und integriert in die Gesellschaft anstatt sie als gestört und behindert zu bezeichnen und deren besondere Fähigkeiten erkennt und fördert. Derzeit wird viel Wert darauf gelegt, sie entweder komplett zu ignorieren oder als gestört oder behindert zu stigmatisieren. Solange das so bleibt, wundert es nicht, dass in Großbritannien laut einer Untersuchung ca. 70% aller Autisten keinen Job finden bzw. nach kurzer Zeit wieder verlieren. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Schweden zeigt, das Autisten im Durchschnitt 16 Jahre früher sterben als der Durchschnitt aller Bewohner Schwedens. Als eine der Ursachen wurde genannt, dass Autisten ohne Lernstörung (also die, die in der Schweiz oft als Asperger Autisten bezeichnet werden) eine neunmal höhere Suizid Quote aufweisen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Wenn man dabei bedenkt, dass es eine recht hohe Quote an nicht diagnostizierten erwachsenen Autisten in der Gesamtbevölkerung gibt, dürfte die echte Quote sogar noch dramatischer ausfallen.

Man darf davon ausgehen, dass sich diese Zahlen im Wesentlichen auf andere Länder und auch die Schweiz übertragen lassen.

Der Grund dafür dürfte vor allem darin zu suchen sein, dass die Gesellschaft Autisten ausgrenzt und nicht integriert. Das führt zu Einsamkeit und das wiederum zu Depressionen die, so die schwedische Studie, bei Autisten oft undiagnostiziert bleibt.

Und zum Schluss, für alle die sich einen Überblick über die Geschichte des Autismus machen möchten und sich nicht darauf verlassen wollen, was einem Hollywood als Autist versucht zu verkaufen, hier noch ein Buchtipp. Ein sehr gutes Werk welches 2016 die Auszeichnung zum besten Nicht fiktionalen Buch erhielt,

NeuroTribes: The Legacy of Autism and How to Think Smarter About People Who Think Differently – 3 Sep 2015 by Steve Silberman (Author), Oliver Sacks (Contributor), das es inzwischen auch in einer deutschen Übersetzung gibt unter dem Titel: Geniale Störung: Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken

*In diesem Zusammenhang gibt es eine interessante Floskel die immer wieder mal benutzt wird, und zwar: „Ehrlich gesagt…“. Jedes Mal, wenn jemand einen Satz damit beginnt, bedeutet das, dass das (toll, 3x das in einer Reihe) was die Person ausserhalb dieser jetzt folgenden Ausnahme sagt, immer gelogen ist. Der Zusatz „Ehrlich gesagt“ signalisiert dem Zuhörer, dass jetzt eine Ausnahme auf diese Regel folgt und das, was jetzt gesagt wird ehrlich ist. Interessanterweise ist das bei NTs auch tatsächlich oft der Fall. Der Regelfall ist, dass die meisten Menschen lügen, wenn sie verbal kommunizieren.

3 Kommentare zu „Gastbeitrag: Sind Autisten behindert?“

  1. Hallo Bernd,

    ich fühle mich in dieser Gesellschaft schon ab und an behindert aber dein Vergleich mit dem Rollstuhlfahrer und dem Architekten trifft es ganz gut. In einer Welt, die friedlicher und leiser wäre, in der Menschen respektvoll, ehrlich und tolerant miteinander umgehen, würde ich mich vermutlich nicht mehr behindert sondern normal und gesund fühlen.

    Danke für den tollen Artikel!

  2. Hallöle,
    ich sehe den Begriff „Behinderung“ nicht als herabwürdigend, sondern vielmehr im Sinne der Definition der Wikipedia, nach welcher Behinderung nicht als „Krankheit“ betrachtet wird, sondern verschiedene Faktoren der Umwelt auf die betroffene Person behindernd wirken können; sowohl Alltagsgegenstände und Einrichtungen oder deren Fehlen, als auch die Einstellung anderer Menschen.

  3. Ich finde auch den Begriff “Autist” oder “Asperger” stickmatisierend.
    Ein Nicht-Autist wird ja auch nicht so benannt.

    So wie die meisten rechtshänder sind, gibt es eben auch linkshänder. Früher wurden diese gezwungen umzulernen, was nicht funktioniert hat.
    Heute betrachten wir es als normal, dass es rechts und linkshänder gibt.

    Genauso muss es normal werden dass Menschen unterschiedlich Denken.

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