Gastbeitrag: Das Asperger Syndrom – doch keine Störung?

Gastbeitrag: Das Asperger Syndrom – doch keine Störung?

Hallo, ich bin Hans, Psychotherapeut und Philosoph und ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Asperger-Menschen. www.kj-psychotherapie-saloga.de

Ich möchte ein paar meiner Gedanken dazu mit euch teilen. Keine Verhaltensanleitungen, keine Ratschläge, was wann wie zu tun ist, einfach ein paar Gedanken zum „Mensch-Sein“…

Am Anfang steht eine Erfahrung, die ich besonders jungen Menschen gern mitgeben möchte: es gibt nichts, das sinnlos oder überflüssig, wertlos oder vergeudet ist, keine Zeit, keine Erfahrungen. Alles hilft uns, zu werden…

Ich möchte etwas anders machen, besser, verständlicher, erlebbarer. Ich will jungen und erwachsenen Menschen Wege zeigen, neue, nicht immer ganz einfache, aber wie ich fand – und immer noch finde – bessere. Ich versuche primär nicht, Wissen zu vermitteln, sondern Menschen von meiner “Vision”, meiner Idee zu begeistern. Also nicht etwas erklären für andere, stattdessen meine Überzeugungen rüberbringen, meine Gedanken und Ideen zu einer Sache.

Ich gebe zu, das klingt schon sehr utopisch, nach jugendlichem „Weltverbesserer“, aber hauptsächlich sind berufliche Erfahrung und Konfrontation mit der Lebens-Realität junger Menschen und insbesondere deren (oft bewundernswertes) Vertrauen – und auch das älterer und erwachsener – in mein Tun die „Leitlinien“ meiner Arbeit geworden.

Schon früh in meiner Arbeit interessierte ich mich für Menschen, deren Konflikte meine Phantasie und die Notwendigkeit für Modifikationen im (auch therapeutischen) Umgang mit jungen Menschen geweckt haben. Angeregt durch meinen Lehrer beschäftigte ich mich dann mit Autisten, besser mit den sogenannten Asperger-Autisten. Beim ersten, der zu mir kam, war ich noch sehr „gefangen“ von der herrschenden Arbeitsweise, aber in der Folge kam mir immer mehr zu Bewusstsein, dass „Störung“ der unpassendste Ausdruck zur Beschreibung dieser Menschen war, das Etikett „Autisten“ sie nicht wirklich treffend beschreibt und Therapie sozialer Fertigkeiten ihre Bedürfnisse nicht wirklich traf. In einer Arbeit in der KJP (Heft 2/2019, Sonderdruck kann kostenfrei bei mir angefordert werden!) haben Jack (Pseudonym eines jungen Asperger, 19 Jahre) und ich das so zu formulieren versucht:

„Was wäre, wenn man Asperger nicht als Störung betrachten würde, sondern als Form menschlichen Denkens und Handelns? Erkannt durch seine Stärken und Talente? … Noch mehr wäre dann, mit Respekt vor ihren Neigungen und Fähigkeiten, eine Terminologie, ein *-Syndrom, überflüssig.“

Und vor ein paar Monaten schrieb mir Jack:

„… Das wird sich ändern, sogar eher früher als später und die Welt wird einen drastisch anderen Blickwinkel auf all das bekommen was wir machen, wie wir denken, fühlen und arbeiten. Auch wenn es jetzt vllt noch sehr utopisch erscheint, dass eines Tages die Menschen um uns herum auf uns schauen werden, und keine Krankheit oder Störung sehen werden, wird es genau so kommen. … (und) für all jene, die Sätze wie diesen belächeln und wohlwollend abtuen wollen, naja, seht euch an wer die grossen Köpfe der Vergangenheit waren: Sokrates, Platon, Aristoteles?  – Eigenbrötler, Absonderliche Gestalten die erst lange nach ihrem Tod die Anerkennung bekamen die ihnen zustand. Goethe, Schiller, jeder x-beliebige Schriftsteller der Geschichte? – Zu ihren Lebzeiten und auch danach mit allen möglichen „Krankheiten“ betitelt. Leonardo da Vinci? Einstein? Elon Musk? Steve Jobs?  – Niemand war „normal“. Wer käme auf die Idee, unglaublichen Personen wie ihnen mit einem so lächerlichen Vorschlag wie „Verhaltenstherapie“ zu kommen? Ich denke ich muss meinen Gedanken nicht weiter ausführen.

Wenn die Unfähigkeit inkompetenter, normaler Menschen, zu erkennen und divergierende Meinungen zu diskutieren, dazu führt, dass wir uns verunsichern lassen, dann passiert genau das, was all die letzten Jahre passiert ist und dem Fortschritt im Weg steht. Ich würde mich umso mehr in das stürzen, was wir genau diesen Leuten hinterlassen können. Die Erkenntnisse, Ideen und – ja – auch eigene Meinungen. Denn genau das ist das, was am Ende zählt.“

 Ich kann Menschen vorurteilsfrei und völlig ohne Erwartungen und Ängste gegenübertreten und das erleichtert mir – zusammen mit den geschilderten Gedanken und Einstellungen – den Kontakt zu denen, die sich in einer Welt zurechtfinden müssen, die so ganz anders ist als die in ihrem Kopf. Ich nenne diese Menschen gern Planetenkinder, weil sie sich selbst oft fühlen, wie von einem anderen Stern.

Im Laufe der Zeit hat Jack erkannt, dass er kein „depressiver Psycho“ ist, sondern etwas anders als mancher „Normalo“. Ein „Anderssein“, das zwar einige Schwierigkeiten mit sich bringt, aber auch soviel Potential, so viele Fähigkeiten, soviel Großartiges,  dass Andere eigentlich nur neidisch sein können. Und dass er nicht hoffnungslos ein hilfloser „Sozialkrüppel“ ist/sein wird, sondern die Fähigkeiten eines großartigen Menschen nutzen kann.

Aber ich weiß wohl um gesellschaftliche und soziale Anforderungen, Kompromisse und Anpassungen, die (zumindest in jungen Jahren – leider) erforderlich sind, um ein halbwegs befriedigendes Leben zu führen, wenn man nicht auf immer in kanadischen Wäldern untertauchen will.

Gilt es also, einen Drahtseilakt zustande zu bringen?

Jack und ich haben – aus einer Notsituation geboren –  eine besondere Form der gemeinsamen Arbeit gefunden. Wir treffen uns einmal/Woche zu einem „Spaziergang“, bei dem wir die anstehenden Fragen, Gedanken, Ideen, Pläne … diskutieren, verwerfen, neu aufgreifen und festklopfen… um sie eine Woche später wieder neu zu ordnen – eben unsere Gespräche oder meine „Gespräche mit Jack„.

Das heisst nicht, dass nicht noch viel an Entwicklung vor ihm liegt – aber bei welchem (jungen) Menschen wär das nicht so. Es geht jetzt wohl weniger um Sich-Finden, um Veränderung, sondern eher um akzeptieren, annehmen: „Auch wenn ich weiß, dass ich anders bin, bin ich noch nicht in der Lage mich komplett so zu akzeptieren wie ich bin.“

It’s not easy to be me“- dieser Satz wird ihn wohl immer begleiten, begleiten in eine Welt, die er immer besser versteht und die ihn vielleicht auch immer besser versteht.

Zum Schluss folgt mir bitte jetzt kurz bei einem Gedankenexperiment:

Stellt euch sich vor, „normale“ Menschen landen auf einem Planeten, wo nur Menschen mit AS leben. Sie selbst werden schnell als NT – neurotypisch – eingeordnet. Da sie – und besonders ihre Kinder – sich wenig oder gar nicht zurechtfinden, das Handeln der Menschen dort nicht verstehen, im Kontakt zu ihnen Schwierigkeiten haben, suchen sie einen Psychologen auf, der daraufhin das “NTS“ (NT-Syndrom) diagnostiziert. Er erklärt ihnen:

„NTS ist eine tiefgreifende neurobiologische Störung. Die Symptome sind: Übertrieben geselliges Verhalten, Überlegenheitswahn und eine Fixierung auf Konformität. NTs können nicht gut alleine sein. NTs sind oft intolerant. In Gruppen agieren NTs zwanghaft und bestehen oft auf funktionsgestörten, destruktiven und sogar unmöglichen Ritualen, nur um die Gruppenidentität aufrecht zu erhalten. NTs haben ein Problem, direkt zu kommunizieren und lügen viel mehr als gesunde Personen.“

Und was tun, wenn Ihr Kind neurotypisch ist?

Als erstes keine Panik, denn heutzutage gibt es aufgrund der diagnostischen Fortschritte, frühzeitiger Interventionen und sorgfältig abgestimmter Verhaltenstechniken, keinen Grund, warum Ihr Kind nicht als ein unabhängiges soziales Wesen aufwachsen und mit der Zeit auch einige besondere Interessen und Fähigkeiten entwickeln sollte, um seinen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.

Kommt uns das irgendwie bekannt vor?

Sind diese „Normalos“ also „gestört“? Oder ihr Kind?

I do because I can. – I can because I want. –

I want because you told me I couldn’t!

 

 

1 Kommentar zu „Gastbeitrag: Das Asperger Syndrom – doch keine Störung?“

  1. Lotte Schütte

    Hi das, was du in dem Beitrag schreibst, denke ich auch öfters. Warum gilt man mit asperger und adhs als nicht normal? Krankhaft? Warum bekommt man mit asperger sogar einen schwerbehindertenausweis?
    Warum müssen wir uns immer den anderen anpassen? Kann ich nicht einfach so sein, wie ich bin?
    Was ist falsch daran? Und warum muss ich Medikamente nehmen, damit ich besser in die Gesellschaft passe?

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